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Einen Pulsschlag lang

Leseprobe 1:

Die Joggerin


Mit dem Kauf des kleinen Einfamilienhauses am Waldrand hatten sich Simone und Philipp einen Traum erfüllt. Zu ihrem stressigen Leben, sie Geschäftsführerin eines Grafik-Design-Büros und er Fachanwalt für Steuerrecht, war der Rückzug in die Natur der perfekte Ausgleich.
   Der Tag begann meist früh, denn die Anfahrt zum Arbeitsplatz war eine Herausforderung. Doch das war der Tribut, den man für ein Privatleben in absoluter Ruhe und Beschaulichkeit zahlen musste. Die Tatsache, dass beide sozusagen ihr eigener Chef waren, brachte aber auch Vorteile. Man arbeitete nicht am Stück. Man konnte unterschiedliche Tagesfreizeiten einplanen,  -  wenn man bereit war, auch schon mal den Abend im Büro zu verbringen. Vor allem Simone genoss diese Zwanglosigkeit. Sie war eine begeisterte Joggerin und übte diese Tätigkeit zu allen Tageszeiten aus. Oft am Nachmittag, nachdem sie schon einige Stunden hart gearbeitet hatte, manchmal am frühen Abend oder, im Sommer, auch spätabends. Philipps Entspannung sah etwas anders aus. Er schwitzte sich lieber in der Sauna den Stress aus den Poren oder rastete mit Kopfhörer auf der Couch ein und versank in den Konzertsälen seiner Lieblingsinterpreten. Simone musste schon ein paar Register ziehen, wenn sie ihn aus einem Joe-Cocker-Konzert herausholen wollte, um ihn beispielsweise  -  zum Rasenmähen zu motivieren. Die Wortgefechte verliefen aber weitgehend witzig. Letztlich gaben sich beide den Freiraum, sich auf persönliche Weise zu entspannen.  -   Vielleicht war das auch das Rezept ihrer harmonischen Beziehung: Individuum bleiben dürfen in der Partnerschaft.
   Wenn Simone nicht alleine joggen wollte, musste sie nicht auf Begleitung verzichten. Etwa 100 m entfernt gab es vier weitere Einfamilienhäuser, in denen nur Frauen lebten. Da gab es zwei Single-Frauen in Simones Alter, eine etwas ältere Witwe und eine sogenannte „Strohwitwe“. Ihr Mann war Arzt und arbeitete für „Ärzte ohne Grenzen“ Außer zu Weihnachten oder zu Ostern war er kaum anwesend. Geschickt hatte Simone die Nachbarinnen im Laufe der Jahre von der glückselig machenden Wirkung des Joggens überzeugt und über „Beweglich halten der Gelenke“ bis „Ausschütten von Endorphinen“ kein Argument ausgelassen. Wenn sie also Zweisamkeit suchte, war das kein Problem. Allerdings, so gesellig Simone auch war, das Joggen mit „sich alleine“ war ihr meist am liebsten. Da es wegen der anstrengenden Tätigkeit sowieso nicht zu großen Unterhaltungen kam, konnte sie so ihren Gedanken nachhängen und hatte schon so manche wichtige berufliche Entscheidung beim Laufen getroffen.
   Der Waldweg begann breit und gut befestigt, wurde aber schnell schmal und  zugewuchert. Nach etwa drei Kilometern endete er schließlich in einem Dickicht. Selbst bei  strahlendem Sonnenschein war es dort so düster, dass sich einem die Assoziation mit dem einen oder anderen Grimm'schen Märchen aufdrängte. Nicht immer hatte Simone Zeit und Lust, die ganze Strecke zurückzulegen. Doch, wenn sie es geschafft hatte, war sie extrem stolz und für den Rest des Tages mehr als ausgeglichen. Oft traf sie auf dem Hin- oder Rückweg eine der Nachbarinnen. Man begrüßte sich dann freundschaftlich mit erhobener Hand, ohne anzuhalten.  -  Letztlich wollte man ja den Erfolg des Laufens nicht gefährden. Fast täglich waren eine oder mehrere der fünf Frauen der Straße unterwegs. Philipp, der einzige Mann weit und breit, pflegte Simone schon mal viel Spaß auf ihrem „Amazonentrip“ zu wünschen.
   Immer wieder gab es  -  offensichtlich ortsfremde  -  Autofahrer, die das Hinweisschild missachteten und eine Abkürzung zum nächsten Ort nehmen wollten. Simone und Philipp schauten sich immer vielsagend an und schmunzelten, wenn sie wieder einmal das typische Geräusch eines rückwärts fahrenden Autos vernahmen. Je penetranter das Geräusch, desto gereizter der Fahrer. Simone war immer wieder erstaunt, in welcher Höllengeschwindigkeit es manche Fahrer schafften, rückwärts zu ihrem Ausgangspunkt zu gelangen. Wahrscheinlich würde es eines Tages die gewünschte Abkürzung zum Nachbarort geben,  -  nämlich dann, wenn ein adrenalingesteuerter Fahrer ganz einfach
das Dickicht ignorierte.
   Es war an einem jener angenehmen Spätsommertage, als Simone so etwa zwei Drittel der Joggingstrecke zurückgelegt hatte und gerade überlegte, ob sie umkehren oder die Strecke zu Ende laufen sollte,  -  als sie ihn sah. Er war dabei, einen dünnen Draht zwischen Weg und Wald zu spannen. Er hielt kurz inne, als Simone vorbeikam. Sie spürte seinen Blick auf ihrem Rücken, bis der Weg rechts abbog und sie aus seinem Blickfeld geriet...

Leseprobe 2:

Wenn es Nacht wird...


Es war Sonntag Nacht, 2.15 Uhr. Das Läuten des Telefons durchbrach die Stille. Sie baute das Geräusch zunächst in ihre Träume ein, die wirre Filme in ihrem Kopf ablaufen ließen. Dann war sie hellwach, saß aufrecht im Bett, die Augen weit aufgerissen, gerade als das letzte Klingelgeräusch verstummte und dann einer noch schwerer zu ertragenden Stille wich. Die Kinder  -  waren sie in ihren Studentenbuden in München und Berlin oder waren sie unterwegs? Sie hatte sich abgewöhnen wollen, zwanghaft über jeden einzelnen ihrer Schritte informiert zu sein. Jetzt merkte sie, dass es noch nicht funktionierte. Adrenalin ließ  jede einzelne Ader in ihr erglühen. Was, wenn das die Polizei war, die ihr von einem schlimmen Unfall berichten wollte? Sie spürte den kaum zu widerstehenden Drang, sofort anzurufen. Doch was, wenn sie in einer Tiefschlafphase waren und das Läuten gar nicht hörten?
   Das Blut trommelte in ihren Ohren. Sie spürte die sich aufbauende Panikattacke, die immer dann von ihr Besitz ergriff, wenn sie ihre Kinder nicht spontan erreichen konnte. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, denn das Telefon begann wieder zu läuten. Sie ergriff den Hörer.
„Hallo?“
„Hallo.“
„Wer sind Sie?“
„Ich wollte wieder einmal deine Stimme hören, nach so langer Zeit. Aber das wird sich jetzt ja ändern.“
Ihr Hals wurde trocken. Sie räusperte sich. Ein Schaudern überzog ihren Körper gepaart mit der Erleichterung, dass es offensichtlich nicht die Polizei war.
„Was wollen Sie?“
„Genug für heute. Ich melde mich wieder.“
„Aber …....“
Die Leitung war tot.
   Sie sprang aus dem Bett, machte alle Lichter an, schloss alle gekippten Fenster, ließ alle Rollläden runter, kontrollierte die Außentüren mehrfach  -  und goss sich dann einen doppelten Cognac ein. Wer um alles auf der Welt wollte nachts ihre Stimme hören?
   An Schlafen war nicht mehr zu denken. Erst im Morgengrauen fiel sie in Tiefschlaf. Fast hätte sie sogar verschlafen. Immer noch verwirrt erreichte sie ihren Arbeitsplatz, ließ ihren Schlüsselbund auf dem Autodach liegen, hastete zurück, um dann in ihre 10. Klasse, die sie montags in der ersten Stunde unterrichtete, mit den Büchern für die 9. zu erscheinen, die erst dienstags auf ihrem Plan stand.
   Der Schulalltag mit seiner gewohnten Routine ließ sie langsam ruhiger werden. Gegen Mittag konnte sie sogar das Geschehene belächeln. Sicherlich eine einmalige Sache, eine dumme Wette, die eingelöst werden musste.
   Mit jedem Wochentag wurde sie entspannter. Und als sich das Wochenende näherte, war sie sogar bestens gelaunt. Da schönes Wetter angesagt war, hatte sie sich mit drei Freundinnen zu einer Wanderung im Rheingau verabredet. Danach wollten sie den Tag in einem ihrer Lieblingslokale ausklingen lassen. Sie war dieses Mal nicht die Fahrerin, würde also dem Wein etwas ausgiebiger zusprechen dürfen.
   Der Tag verlief nach Plan. Und als sie sich abends vor ihrem Haus verabschiedeten,
kicherten sie wie die Teenager und waren mit Sicherheit etwas zu laut für die schlafenden Nachbarn. Die Katze schlief zusammen gerollt auf ihrem Lieblingsstuhl und registrierte durch ein kurzes Zucken ihres rechten Ohres ihr Heimkommen. Der Hund schlief schnarchend in seinem Korb. Wenn seine Blase leer war, hörte er nichts. Jeder Einbrecher könnte ihn dann entführen. Sie schmunzelte. Ihre Tochter war dieses Wochenende zu Besuch und hatte ihr den abendlichen Gassigang abgenommen, bevor sie dann bei einer Freundin nächtigte.
   Keine Pflichten mehr zu erledigen und die nötige Bettschwere durch einen herrlichen, etwas zu reichlich genossenen, Spätburgunder. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte, dass der neue Tag schon begonnen hatte. Sie kuschelte sich in ihr Bett und schlief augenblicklich ein.
   2.15 Uhr. Das schnurlose Telefon auf ihrem Nachttisch schrillte  -   ein giftiges grünes Licht vom Display entsendend. Dieses Mal war sie sofort wach, aber unfähig zu reagieren. Sie starrte auf das Monster, das eine blassgrüne Aura um sich entwickelte. Nach zwanzig unerträglichen Klingeltönen trat abrupt Stille ein. Sie saß zusammengekauert, die Knie bis zum Kinn gezogen an der Rückwand ihres Bettes und starrte auf die tickende Zeitbombe. Obwohl sie wusste, auf was sie wartete, zuckte sie heftig zusammen, als es geschah. Dieses Mal nahm sie das Gespräch sofort an. Stumm lauschte sie einem fremden Atemgeräusch.
„Hallo, hast du mich schon vermisst?“
Sie schauderte.
„Weißt du eigentlich, dass du die einzige Frau bist, die ich je geliebt habe?“...